Ausstellungsort: Torhäuser
Eröffnung: 03.09.2015, 19 Uhr
Eine alte Aufnahme aus dem Familienalbum, aufgenommen in Los Angeles Ende der 30er Jahre. Eine Frau mittleren Alters posiert vor einer Schaufensterauslage. Ihr auffällig gemustertes Kleid fügt sich trotz – oder gerade wegen? – des starken grafischen Kontrastes auf eigentümliche Weise in das Bild ein; fast meint man, die Person verschmelze mit dem Hintergrund oder löse sich in diesem auf. Zugleich ist die Aufnahme durch eine unverwechselbare individuelle Geste gekennzeichnet, denn die Frau hält dem Fotografen die Figur eines Rehs entgegen. Angesichts ihres ansonsten äußerst zurückhaltenden Erscheinungsbildes erhält diese ungewöhnliche Geste zentrale Bedeutung. Die Plastik des bockenden Rehs scheint als Reminiszenz an deutsche Jägerromantik etwas zu transportieren, das der Frau ungemein wichtig ist.
Ein zweites Bild desselben Albums. Die Verschiedenheit des Auftritts ist evident. Breitbeinig und sicher posiert der Mann vor seinem Ford T, in einer Aufnahme, die vom Bildvokabular der 1930er Jahre bestimmt ist. Holzhütte, Werbetafel, Telegrafenmast, Tankstelle und das im Ford T manifestierte amerikanische Versprechen grenzenloser (Auto-)Mobilität und Freiheit, die der Mann selbstbewusst für sich in Anspruch nimmt.
Für die Fotografin Birte Hennig bilden diese beiden Aufnahmen, die ihre eigene Großtante Emma und ihren Großonkel Ferdy zeigen, einen wichtigen Bezugspunkt ihrer neuen Arbeit October – Zwischen Steubenparade und Alpine Village, in der sie nicht nur die Auswanderergeschichte ihrer eigenen Familie, sondern auch die deutsche Immigrationsgeschichte in die USA zum Anlass ihrer künstlerischen Reflektionen nimmt.
In ihrer künstlerischen Arbeit befasste sich Hennig wiederholt mit dem Dazwischen, mit Differenzen, Gleichzeitigkeiten und Übergängen, die sich nur schwer greifen und beschreiben lassen. 2012 spürte sie beispielsweise in ihrer Arbeit Baumholder den wechselseitigen Assimilationsprozessen am amerikanischen Garnissionsstandort nach und zeigte auf, wie sich die Bedürfnisse und der Lebensstil der dort stationierten Soldaten in die Oberfläche der Kleinstadt einschrieb. October fungiert als spielerische Umkehrung dieser Arbeit, für die sich Hennig auf dreimonatige Spurensuche in die USA begab, um nach Indizien und Anzeichen für die anhaltende Wirksamkeit der deutschen Migrationsgeschichte zu suchen.
Emma und Ferdy dienen in dieser Erzählung als Paradebeispiel kultureller Integration von Immigranten, die zu erfolgreichen amerikanischen Geschäftsleuten wurden. Doch verdeutlichen die beiden Einblicke in das Familienalbum nicht auch exemplarisch die vielen Schritte, Stufen und Hürden der Prozesse kultureller Adaption und Assimilation? Während Ferdy das amerikanische Lebensmodel und den amerikanischen Lebensstil von Beginn an verinnerlicht zu haben scheint, scheint Emma im Dazwischen verhaftet, scheint Stabilität und Rückhalt in Form einer Devotionalie als Erinnerungsstück an die zurückgelassene Kultur zu suchen.
Hennigs künstlerische Arbeit October, die in Braunschweig erstmalig vorgestellt wird, zeigt die aufmerksame Suche der Fotografin nach den Spuren der über 300 Jahre währenden deutschen Einwanderungsgeschichte in die USA. Welchen Stellenwert kann eine deutsche kulturelle Identität für die Auswanderer heute noch haben, und was bedeuteten die Prozesse der Assimilation für die Betroffenen eigentlich? Wie erlebt man den Verlust der Allgemeingültigkeit eigener kultureller Prägung und wie gelingt es, sich an die Gepflogenheiten eines fremden Landes anzupassen? Hennig geht diesen Prozessen in einer vielstufigen Herangehensweise nach. So führte sie Interviews mit den Nachkommen deutscher Auswanderer, die sie in einer Multimedia-Installation für den Betrachter erfahrbar macht. Zugleich durchzieht die Frage der Verortung die Ebenen der Ausstellung als roter Faden. Wie gelingt es Personen, sich in einem neuen kulturellen Umfeld zu orientieren und ein stimmiges Bild ihres eigenen Lebensentwurfs zu entwickeln? Die Riten kommerzialisierter Oktoberfeste und Events wie der Steubenparade in New York City bieten Hennig hierbei Gelegenheit, Anzeichen von Differenzen und Überlagerungen kultureller Zugehörigkeiten zwischen Deutschland und den USA zu suchen. Dabei beobachtet die Fotografin teils mit Parr’schem Humor die Anzeichen kulturellen Eigensinns und versucht kulturelle Werte und Wertigkeiten einzufangen.
Where it was hingegen heißt ein Diptychon, das Hennig auf der Suche nach dem Ort und der physischen Verwurzelung ihrer Verwandten angefertigt hat. Die Orte, an denen Emma und Ferdy lebten, wirkten als Schicksalorte, die in ihrer Biographie eine entscheidende Rolle spielten, von deren individueller Bedeutung heute aber an dem realen geografischen Ort nichts mehr zu spüren ist. Wie lässt sich kulturelle Identität aufrechterhalten, wenn die äußeren Umstände im permanenten Wandel begriffen sind?
In ihrer Arbeit October hat Birte Hennig metaphorische Orte ausgewiesen, die auch auf übertragener Ebene die Spuren des Übergangs verdeutlichen. Orte, Personen und das komplexe Produkt „kulturelle Identität“ werfen mit den Problematiken von „Heimat“, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit eine Fragestellung auf, die sich auch angesichts der europäischen Flüchtlingskatastrophe als ebenso allgemeingültig wie aktuell erweist.
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation.
Gefördert durch
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An old photograph from a family album, taken in Los Angeles at the end of the 1930s. A middle-aged woman poses in front of a shop window. The striking pattern of her dress gives the picture a peculiar quality despite — or perhaps precisely because of? — the pronounced graphic contrast; it almost appears as if the person wearing the dress blends or dissolves into the background. At the same time, the photograph is characterized by an unmistakeable individual gesture, for the women is holding out the figure of a deer toward the photographer. Given her otherwise extremely reserved appearance, this unusual gesture is of central significance. The figure of the bucking deer seems reminiscent of the German romanticism that surrouds the hunter, there is something about it that is tremendously important to the woman.
A second picture from the same album. Here, there is a telling difference about the scene. Legs apart, the man poses confidently in front of his Ford T. The photograph is characteristic of the visual vocabulary of 1930s. Wooden hut, billboard, telegraph pole, petrol station and the American promise of boundless (auto-)mobility or freedom expressed in the Ford T, qualities that the man self-confidently claims for himself.
For the photographer Birte Hennig, these photographs of her great aunt Emma and her great uncle Ferdy constitute an important reference point for her new work October – Between Steuben Parade and Alpine Village, in which she reflects not only upon her own family’s history of emigration but also on the history of German immigrants in the USA.
In her artistic work, Hennig repeatedly deals with the inbetween, with differences, simultaneity and transitions, none of which are easy to grasp and describe. In Baumholder (2012) for example, she traced the reciprocal processes of assimilation that took place in and around a US army garrison, and showed how the needs and lifestyle of the soldiers stationed there inscribed themselves in the small town. October serves as a playful inversion of this work, following Hennig’s three-month journey of discovery in the USA, during which the photographer searched for signs of the lasting influence of German migration history.
Emma and Ferdy serve in this narrative as prime examples of the cultural integration of immigrants who became successful American business people. However, is it not so that both images from the family album are also indicative of the many steps, stages and hurdles involved in the process of cultural adaptation and assimilation? While Ferdy seems to have internalized the American way of life and the American lifestyle from the very beginning, Emma appears to be caught up in the inbetween, searching for the stability and support embodied in a sacred object of memory relating to the culture that she left behind.
Hennig’s work of art October, displayed in Braunschweig for the first time, reflects the photogrpaher’s careful search for traces of over 300 years of German emigration to the USA. What status might German cultural identity have among emigrants today, and what does the process of assimilation really mean to those affected? How does one cope with the loss of general acceptance based on one’s cultural roots and how does one succeed in adapting to the customs of a foreign land? Hennig examines these processes in several stages. She conducts interviews with the descendents of German emigrants, impressions of which the viewer can gain from a multimedia installation. At the same time, the question of belonging provides the exhibition’s various elements with a leitmotif. How do people succeed in orienting themselves in a new cultural setting and form a coherent vision of their own path in life? The rites of commercialized Oktoberfests and events like the Steuben Parade in New York City offer Hennig opportunities to search for signs of differences and overlaps in cultural affinities between Germany and the USA. Thus the photographer observes signs of cultural stubborness, at times with a sense of humor akin to that of Martin Parr, and tries to capture cultural values and preferences.
In contrast to all of which, Hennig completed a diptych entitled Where it was, as part of her search for her relative’s place and their physical rootedness. In the real geographical locations where Emma and Ferdy lived and which took on the role of places of destiny, playing a decisive role in their biographies; here, today, there are no longer any traces of the significance that these places once had. How does cultural identity sustain itself, if external circumstances are constantly changing?
In October, Birte Hennig has identified metaphorical sites that, in a wider sense too, make apparent the traces of transition. Places, people and the complex phenomenon of „cultural identity“, in combination with themes of „Heimat“, security and belonging, raise questions that prove to be as universal as they are topical, not least in the wake of the European refugee catastrophe.
A publication accompanies the exhibition.