Arno Gisinger
TOPOÏ

Die großen roten Leuchtbuchstaben auf einem Hoteldach, hoch über der Stadt am Meer, kehren dem Betrachter des Bildes den Rücken. Der schöne Schein bedarf einer aufwendigen Stützkonstruktion, um den Schriftzug EUROPA zum Leuchten zu bringen. Wie ließe sich dieses Bild, heute im November 2012 anders lesen, als ein symbolischer Kommentar zum Zustand des Kontinents? Doch der Fotograf des Bildes schaute mit dieser Aufnahme auf eine andere Zeit, als die Idee von Europa schon einmal zur Disposition stand: Eine Bildlegende, datiert auf den 6. Januar 1938, setzt die Szenerie, die sich als eine Aufnahme aus unseren Tagen zu erkennen gibt, in Relation zu einer Zeit, in der Südeuropa noch Zufluchtsort für deutsche Emigranten und Flüchtlinge war: »Über Italien geht augenblicklich eine rabiate Kältewelle …«. Zitiert aus einem Brief Walter Benjamins an seinen Freund Max Horkheimer.

Die Aufnahme vom Hoteldach in San Remo aus dem Jahr 2007 gehört zu einer mehrjährigen Recherche, die der in Paris lebende Künstler und Fotograf Arno Gisinger (*1964 in Dornbirn, Österreich, lebt und arbeitet in Paris) den Exilorten Walter Benjamins gewidmet hat. Seit über fünfzehn Jahren beschäftigt sich Arno Gisinger mit der Frage, wie die Fotografie eine andere historische Erzählung in Gang setzen kann, als es die klassische Geschichtsschreibung vermag. Er versteht sich dabei quasi als künstlerischer Agent einer Denkfigur, der Analogie von Fotografie und Geschichtsschreibung, welcher ein anderer deutscher Kulturphilosoph, Siegfried Kracauer, sein letztes Buch Geschichte. Vor den letzten Dingen gewidmet hat.

Beginnend mit der Arbeit Oradour aus der Mitte der 1990er Jahre hat Arno Gisinger eine Haltung und eine Methode entwickelt, die man als »diskursiven Dokumentarismus« (Brigitte Werneburg) bezeichnen könnte und die mit dem Ausstellungs- und Buchprojekt TOPOÏ gleichsam eine Reaktivierung erfährt. In den Aufnahmen aus der französischen Gedenkstätte Oradour-sur-Glane arbeitet er heraus, wie sehr dem Geschehen von damals – die grausame Vernichtung eines Dorfes durch die Waffen-SS im Jahr 1944 – in der Form künstlich erhaltener Ruinen eine dauerhafte Präsenz verliehen wird. Die wie in einer Fotografie angehaltene Zeit wird als Idee hinter dieser musealen Inszenierung sichtbar. Zugleich fokussiert der Fotograf auch auf die einzelnen Dinge und Gegenstände der Bewohner und gibt der individuellen Dimension des Verbrechens eine Gestalt. Installativ präsentiert, begleitet von einem gelesenen Textdokument, wird das Verlangen der Erinnerung zum eigentlichen Gegenstand der Arbeit. In eine ähnliche Richtung weist die spätere Serie Cù Chi, die 2007 im Rahmen einer Künstlerresidenz in Ho Chi Minh Stadt entstanden ist. Auch diese Arbeit ist einem »lieu de mémoire« (Erinnerungsort) gewidmet, hier jedoch wird an historischer Stätte der Widerstand der Vietkong gegen die amerikanischen Truppen zelebriert. Angesichts des wachsenden Wohlstandes in Vietnam erscheint die künstliche Spärlichkeit der versteckten Unterkünfte von damals wie Revolutionsfolklore. Gisinger stellt dies öffentlich zur Diskussion, wenn er seine konstatierende Ortsbegehung als große Historienbilder im Fine Arts Museum von Ho Chi Minh City an die Stellen hängt, an der sonst die offizielle Kunst zu sehen ist. Zugleich beschränkt sich sein Blick nicht darauf, dies als bloße Propaganda bloßzustellen, sondern er ergänzt seine Serie um Porträts von Veteranen. Geschichte und Erinnerung, diese unterschiedlichen und oft konträren Erzählweisen der Vergangenheit prallen in Arno Gisingers Arbeiten immer wieder aufeinander.

Neben der Zeugenschaft durch Orte und Menschen widmet sich sein Blick immer wieder auch den Dingen. Das umfangreiche Werk Invent arisiert ist eine fotografische Bestandsaufnahme von Gegenständen, die einst das Eigentum jüdischer Familien in Wien gewesen sind, nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland »arisiert« wurden und sich nun im Besitz des Mobiliendepots befinden. Diese Porträtsitzung der Dinge ist zugleich auch ein Aufrufen der fehlenden Gegenstände, Aufnahmen der Leere, die ein Bild von der Monstrosität dieser Vorgänge geben, eine der vielen Konstellationen, in der sich die Präsenz des Gewesenen mit der Absenz des Gegenwärtigen zu vermischen beginnt.

Arno Gisingers Form eines »diskursiven Dokumentarismus« ist eine künstlerische Haltung, die von der Behauptung des Faktischen ausgeht, die jeder Fotografie innewohnt, einer Sichtweise, die sich am Dokumentarstil eines Walker Evans herausgebildet hat. Doch verstehen sich seine Bilder nicht als abgeschlossene Repräsentationen, bereits die sich wandelnde und experimentelle Form der Präsentation und die Rolle des Texts transzendieren den vermeintlichen Autonomie-Anspruch eines künstlerischen Werkes und seiner fest eingeschriebenen Bedeutung. Zuletzt hat sich Arno Gisinger verstärkt der Analyse vorhandener Bilder zugewandt, nicht zuletzt angeregt durch die Zusammenarbeit mit Georges Didi-Huberman an dessen Projekt Atlas. Für die Braunschweiger Ausstellung, der ersten Station der vierteiligen Ausstellungsserie TOPOÏ, hat Gisinger vor Ort im Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung recherchiert. Tatsächlich finden in Schulbüchern die illustrierende Verwendung von Fotografie und eine historische ideologische Sicht eine gemeinsame Form. Anhand der Geschichtsbücher von Walther Gehl untersucht Gisinger den fast nahtlosen Übergang des konservativen Geschichtsverständnisses der Weimarer Zeit und ihrer Eliten in die Zeit des Dritten Reichs. Nur einige nach Januar 1933 hinzugefügte Bilder des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler reichen schon aus, um dem Lauf der Geschichte ihre schicksalshafte Form zu geben. Über das eingangs beschriebene Bild schreibt der französische Kurator Clément Chéroux in dem Text »Im Reich der Vorräume« zu Gisingers TOPOÏ-Projekt, dass der rücklings zu lesende Schriftzug ihn an den philosophischen Begriff der APORIE erinnert hätte, eine wunderbare, fast Freud’sche Lesart eines Fototheoretikers. Auf seinen Streifzügen durch Kracauers Vorräume, durch welche die Historiografie und Fotografie Zugang zu dem geben, was gewesen ist, stößt Arno Gisinger immer wieder auf die Aporien dieses Mediums, wissend dass fotografische Bilder dabei helfen können, Wirklichkeit, Vergangenheit und ihre jeweiligen Interpretationen besser denken zu können.

Zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiger Katalog (dt. / franz.) bei Trans Photographic Press / Bucher Verlag, gestaltet von Helmut Völter.

Im Rahmen der Fotografischen Jahresgaben 2012 des Museums ist eine Edition von Arno Gisinger erhältlich: Aus der Serie Konstellation Benjamin, Hotel Europa, San Remo, 2007, Inkjet Print mit pigmentiertenTinten, 80 × 100 cm, Auflage 10, 600 €. Diese und weitere Jahresgaben von Käthe Buchler, Seiichi Furuya und Sascha Weidner sind im Museum für Photographie Braunschweig einsehbar, außerdem hier.

In Kooperation mit
– Centre photographique d’Île de France, Pontault-Combault (F)
– PhotoForum PasquArt, Biel/Bienne (CH)
– Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum (A)

Gefördert durch

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